Ein Jahr Bundestag
Gestern vor einem Jahr wurde ich zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. Immer noch unvergessen ist der Moment, genau heute vor einem Jahr, am Morgen nach der Wahl, als sich der Eingang zum Reichstag nach Nennung meines Namens und einem schnellem Blick auf die Liste öffnete und ich eintreten konnte. Ein Gefühl ähnlich wahrscheinlich wie beim Eintritt in einen Orden. Ein besonderes Gefühl umweht mich auch weiterhin jedes Mal beim Betreten des Plenarsaals mit seiner fast schon klösterlichen Reduziertheit: kein Essen, keine Getränke, kein Zugang für Mitarbeiter, keine Laptops. In der Organisation meines umgekrempelten neuen Lebens hat sich zum Glück inzwischen etwas Routine eingestellt – als Abgeordnete sowie privat. Fordernd bleibt es, aber ich erfülle die Aufgabe auch gerne.
Ich habe mir vorgenommen, bei aller zunehmenden Routine, mir möglichst lange den frischen Blick des Neuankömmlings zu bewahren. Der Bundestag ist eine Tretmühle mit sehr hoher Taktzahl. Ich werde immer mehr davon mitgerissen. Gerade deshalb nehme ich mir heute die Zeit, einige grundsätzliche Beobachtungen aus meinem ersten Jahr als Abgeordnete aufzuschreiben. Bevor ich sie eines Tages vielleicht nicht mehr sehe.
Die Abläufe im Bundestag und seiner Verwaltung funktionieren reibungslos; auch meine eigene Fraktion ist eine gut geölte Maschine, auf die ich mich gerne verlasse. Das ist schon einmal gut und für den Bürger sicher auch beruhigend zu erfahren. Das Wie der Abläufe ist soweit klar. Das Warum erschließt sich mir dagegen bei weitem nicht immer.
Ein Beispiel: Im Innenausschuss, indem ich bin, verbringen die Abgeordneten jeweils die allermeiste Zeit der dreistündigen Ausschusssitzungen damit, Regierungsmitglieder und Vertreter von Bundesbehörden zu aktuellen Sachverhalten zu befragen. Das dient offensichtlich der Kontrolle der Regierung und – letztlich nur in der Innenwelt des Ausschusses – der parteilichen Profilierung. Jedem Abgeordneten ist es aber unbenommen, jederzeit Informationen, die ihn oder sie interessieren schriftlich bei den Ministerien anzufordern. Was bringt das Ganze also wirklich?
Gesetzgebungsvorhaben entstehen dagegen in aller Regel nicht im Parlament, so sehr sich auch einzelne Abgeordnete dafür einsetzen, eigene Ideen einzubringen, sondern in den Ministerien. Den Ausschüssen und Berichterstatterrunden bleibt die Aufgabe eines Finetunings, das durchaus sehr relevant sein kann. Aber: Sollte sich die Legislative womöglich mehr Gestaltungsmacht erobern? Wenn ja, nur wie in der Praxis des Parlaments?
Das sind aber alles nur geringe Makel, denn die Mitspracherechte funktionieren. Gravierender erscheint mir folgendes Problem: Das Parlament ist getrieben durch die Arbeit der Exekutive sowie durch tagespolitische, also meist krisenhafte Erfordernisse. Es fehlen aus meiner Sicht im gesamten politischen Verfahren Räume, in denen verbindlich über langfristige Zielsetzungen und Strategien gesprochen wird. Wohin wollen wir mit unserem Land hinsteuern? Was ist unser Bild von unserer gemeinsamen Zukunft? Der jeweils ausgehandelte Koalitionsvertrag kommt einer derartigen Leitvision und Arbeitsplanung noch am nächsten. Aber: Er ist naturgemäß nur für ein oder zwei Legislaturperioden ausgelegt und im Wesenskern ein operatives Dokument, das eine Art Arbeitsplanung der Koalitionspartner festlegt.
Ich komme im selben Zusammenhang zu einem zweiten Manko: Mir scheint, es fehlen uns ressortübergreifende Frühwarnsysteme. Sprich: Wir wissen zum einen nicht so ganz genau, wohin wir steuern wollen. Zum anderen sagt uns aber auch keiner, ob auf unserem faktisch eingeschlagenen Weg Risiken zu beachten seien. Falls ja, wurde es zumindest nicht gehört. Einige Stichworte dazu sind: Russland, Verteidigungsfähigkeit, Afghanistan-Abzug, Demografie, Pandemie, Rohstoffsicherheit – die Liste ließe sich fortsetzen. Wo werden solche Großthemen in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet und wie können wir sicherstellen, dass über Legislaturperioden hinaus darauf stringent reagiert wird? Dass Deutschland zum ersten Mal eine Nationale Sicherheitsstrategie erarbeitet, sagt in diesem Zusammenhang sehr viel aus. Ich begrüße dieses Projekt sehr und wünsche mir, dass es primär mit fachlicher Expertise und zeitnah umgesetzt wird.
Lösungsansätze, die ich sehe: Ministerien sollten in dieser immer komplexeren Welt zunehmend als technokratische Erarbeiter von tragfähigen Lösungen arbeiten; also eher wie Think Tanks als der jetzigen Mischung aus politischen Hinterhöfen regierender Minister und Amtsstuben. Wir brauchen außerdem auch einen Nationalen Sicherheitsrat, der sich fortlaufend mit sicherheitsrelevanten Szenarien befasst. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat uns schmerzlich gelernt wie sehr wir Geo- und Sicherheitspolitik vernachlässigt haben. Schließlich frage ich mich, ob es für den Steuerzahler wie auch für die Effizienz des Apparats nicht zuträglicher wäre, Legislaturperioden um ein Jahr zu verlängern. Wegen Regierungsbildung am Anfang und Wahlkampf am Ende sind die eigentlichen Arbeitszyklen kürzer als gut ist. Weniger Hektik, mehr Raum für längerfristige politische Gestaltung.
Schließlich noch eine letzte Beobachtung: Das politische Berlin hat wenig – und aus meiner Sicht viel zu wenig – Interesse an dem, was in Brüssel auf der Ebene der Europäischen Union geschieht. Europa ist der blinde Fleck oder der Elefant im Raum, denn sehr vieles wird von Brüssel mitbestimmt. Auch der Europa-Ausschuss des Bundestages kann das nicht auffangen, auch wenn er sich in dieser Legislatur aktiver einbringen wird. Als größtes Land in Europa und klar europafreundlich ausgerichtet, sollten wir uns daran noch mehr gestaltend beteiligen. Auch dazu fehlen im Betrieb Berlins oft Zeit und Raum.